Kein Mitverschulden trotz Fehlreaktion

Dezember 2016

Nach § 20 Abs 1 Satz 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) hat der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen oder durch Straßenverkehrszeichen angekündigten Umständen, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen, sowie den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Der Lenker eines Kraftfahrzeuges muss zwar bei der Wahl seiner Fahrgeschwindigkeit auch solche Hindernisse in Betracht ziehen, mit denen er bei Beachtung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung zu rechnen hat. Er genügt aber seiner Pflicht, wenn er die Geschwindigkeit den Umständen anpasst, die ihm bei der Fahrt erkennbar werden oder mit denen er nach der Erfahrung des Lebens zu rechnen hat. Auf völlig unberechenbare Hindernisse und insbesondere auch Hindernisse, die auf Grund von nicht rechtzeitig erkennbaren Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer in die Fahrbahn gelangen, braucht er seine Geschwindigkeit nicht einzurichten.

In einer kürzlich vom Obersten Gerichtshof (OGH) entschiedenen Rechtssache hatte sich der OGH mit dieser Problematik zu befassen. Der Entscheidung lag nachfolgender Sachverhalt zu Grunde:

Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad auf einer Landesstraße hinter einem PKW. Er fuhr mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h und hielt einen ausreichenden Tiefenabstand zu dem vor ihm fahrenden PKW ein. Nach einem Ausweichmanöver des PKW-Lenkers erlangte er Sicht auf einen auf der Fahrbahn liegenden Kotflügel, der von einem LKW stammte. Der Kläger leitete daraufhin eine blockierende Bremsung ein, wodurch er zu Sturz kam. Hätte der Kläger mit seinem Motorrad eine dosierte Bremsung ausgeführt, wäre seine Fahrlinie stabil geblieben. Dem Kläger wäre ein Auslenken nach links möglich gewesen, ohne dabei den in der Mitte des Fahrstreifens befindlichen Kotflügel zu überfahren. Auch ohne Bremsmanöver wäre es dem Kläger möglich gewesen, mit einem geringfügigen Auslenken den auf der Fahrbahn liegenden Kotflügel zu umfahren.

In rechtlicher Hinsicht führte der OGH aus, dass die Reaktion des Klägers auf das Ansichtigwerden des Kotflügels rückblickend objektiv falsch gewesen sei und bei richtiger Reaktion („dosierte Bremsung“) der Unfall unterblieben wäre. Nach ständiger Rechtsprechung könne es ihm aber nicht als Mitverschulden angerechnet werden, wenn ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen wird und er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme trifft. Den Kläger trifft daher kein Mitverschulden.