Kein „Vorrang“ von Fußgängern auf Geh- und Radwegen!

Verkehrsrecht
August 2022


Einer kürzlich vom Obersten Gerichtshof (OGH) entschiedenen Rechtssache lag nachfolgender Sachverhalt zugrunde:

Auf dem vier Meter breiten Geh- und Radweg „Rheinauweg“ ereignete sich ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Fahrradfahrerin und die Beklagte als Fußgängerin beteiligt waren. In Fahrtrichtung der Klägerin befinden sich auf der rechten Seite mehrere PKW-Abstellplätze und auf der linken Seite, gegenüber den Stellplätzen, ein Kiosk.

Die Beklagte stieg als Beifahrerin bei den Stellplätzen aus einem PKW aus und beabsichtigte, den Rheinauweg zu überqueren, um den gegenüberliegenden Kiosk aufzusuchen. Nach Verlassen des PKW ging sie zügig in Richtung späterer Unfallstelle. Ca eine Sekunde vor der späteren Kollision befand sie sich unmittelbar vor Betreten des Rheinauwegs. Vor Betreten des Wegs blickte sie weder nach links in Fahrtrichtung der Klägerin noch blieb sie stehen.

Die Klägerin fuhr mit ihrem E‑Bike auf dem Rheinauweg in Richtung Kiosk. Im Abstand von ca einem Meter vom – in Fahrtrichtung der Klägerin gesehenen – rechten Rand des Rheinauwegs kam es zur Kollision mit der querenden Beklagten. Die Kollisionsgeschwindigkeit der Klägerin betrug jedenfalls weniger als 20 km/h. Sie wurde erst durch die Kollision auf die Beklagte aufmerksam. Auch die Beklagte nahm die Klägerin erst unmittelbar vor der Kollision wahr.

Die Klägerin forderte von der Beklagten die Bezahlung der durch den Unfall verursachten Schäden. Die Beklagte wendete dagegen ein, dass die Klägerin der Beklagten als herannahende Fußgängerin das Überqueren des Geh- und Radweges hätte ermöglichen müssen.

Sowohl das Erst- als auch das Berufungsgericht gaben dem Klagebegehren Folge. Der OGH führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass gemäß § 76 Abs 1 StVO Fußgänger verpflichtet seien, auf Gehsteigen oder Gehwegen zu gehen und seien es ihnen untersagt, überraschend die Fahrbahn zu betreten.

Gemäß § 76 Abs 4 lit b StVO dürfen Fußgänger (zum Überqueren) an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt wird, und ein Schutzweg nicht vorhanden ist, erst dann auf die Fahrbahn treten, wenn sie sich vergewissert haben, dass sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden.

Bei einem reinen Radweg handle es sich nach der Rsp um eine Fahrbahn iSd § 76 StVO. § 76 StVO unterscheide aber zwischen dem für den Fahrzeugverkehr bestimmten Teil einer Straße (Fahrbahn) einerseits und den für den Fußgängerverkehr bestimmten, von der Fahrbahn abgegrenzten Straßenteilen (Gehsteigen) bzw. als solchen gekennzeichneten Wegen (Gehwegen) andererseits. Die Regelungen des § 76 StVO seien vom Grundsatz beherrscht, dass die Fahrbahn in erster Linie für den Fahrzeugverkehr bestimmt ist, was auf einen Geh- und Radweg bereits per definitionem nicht zutreffe.

Ein Geh- und Radweg sei daher nicht als Fahrbahn iSd § 76 Abs 1 StVO zu qualifizieren, da ein Geh- und Radweg der gemeinsamen Nutzung durch Fußgänger und Radfahrer dient und – im Gegensatz zu einer Fahrbahn oder einer Nebenfahrbahn – dem gesamten Fahrzeugverkehr nicht offensteht, sodass ein Geh- und Radweg kein Teil der Fahrbahn ist.

Sowohl aus dem Gesetzeswortlaut als auch aus den Materialien des § 68 Abs 1 letzter Satz StVO sei abzuleiten, dass der Zweck der Norm der Schutz der Fußgänger ist, die sich schon auf dem Geh‑ und Radweg befinden, nicht aber derjenigen, die diesen bloß zum Zweck der Überquerung betreten. § 68 Abs 1 letzter Satz StVO schaffe keine besonderen Privilegien für Fußgänger dahingehend, dass ein Radfahrer verpflichtet wäre, einem herannahenden Fußgänger das Überqueren des Geh- und Radwegs zu ermöglichen.

Auch § 76 Abs 4 StVO sei eine Schutznorm mit dem Zweck der Vermeidung von Zusammenstößen von Fußgängern mit herannahenden Fahrzeugen. Dieser Schutzzweck treffe aber in gleicher Weise im Verhältnis zwischen auf einem Geh- und Radweg herannahenden Fahrrädern einerseits und Fußgängern andererseits zu, die diesen zum Überqueren betreten.

Da die Beklagte gegen diese Schutznorm, die analog auf Geh- und Radwege anzuwenden sei, verstoßen habe, indem sie nach Verlassen des PKW zügig, ohne nach links oder rechts zu schauen den Geh- und Radweg zum Überqueren betreten hat, treffe sie das Alleinverschulden am Zustandegekommen des gegenständlichen Verkehrsunfalles. Der OGH bestätigte demnach das Urteil der Vorinstanzen.