Pflichtteilsminderung – 20 Jahre als „längerer Zeitraum“

Erbrecht
März 2022


Gemäß § 776 Abs 1 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) kann der Pflichtteil auf die Hälfte gemindert werden, wenn der Verstorbene und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem Tod nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.

Einer kürzlich vom Obersten Gerichtshof (OGH) entschiedenen Rechtssache lag nachfolgender Sachverhalt zugrunde:

Der beklagte Bruder des Klägers wurde vom verstorbenen Vater mit Testament zum Alleinerben bestimmt. Bereits mit vorherigem Übergabe- und Schenkungsvertrag wurde dem Beklagten eine landwirtschaftlich genutzte Liegenschaft übertragen. Der Kläger hingegen wurde auf den halben Pflichtteil gem § 776 Abs 1 ABGB verwiesen. Die Verlassenschaft wurde im Jahre 2018 dem Beklagten eingeantwortet.

Der Kläger entstammt aus einer etwa einjährigen Beziehung des Vaters mit der Mutter und verbrachte er als Kind viel Zeit beim Vater, unter Anderem verbrachte er etwa die Hälfte seiner Ferien bei ihm. Nachdem der Kläger zweimal umgezogen war und der Kontakt zum Vater geringer wurde, brach der Kontakt im Jahre 2008 völlig ab. Der Kläger gab dem Vater weder seine neue Adresse noch seine Telefonnummer bekannt und wurde er nicht einmal über die Geburt der drei Kinder des Klägers informiert. Grund für den Abbruch des Kontaktes war die familiäre Seite der Ehefrau, welche der Kläger im Jahr 2005 bzw. 2006 heiratete, sowie die Persönlichkeit des Vaters, welcher seit Jahren an depressiven Zuständen und Wahnvorstellungen litt. Der Kläger war mit der psychischen Erkrankung des Vaters überfordert.

Der Kläger fordert den seiner Ansicht nach weiter offenen halben Pflichtteil.

Der OGH führte in seiner Entscheidung aus, dass Voraussetzung für die Pflichtteilsminderung gemäß § 776 Abs 1 ABGB ist, dass der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem Tod des Verstorbenen mit diesem nicht in einem Naheverhältnis stand, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht. Welcher Zeitraum unter einem „längeren Zeitraum“ verstanden wird, wird im Gesetz nicht definiert und gab es hierzu bislang auch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung.

Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass im Allgemeinen eine nachhaltige die Pflichtteilsminderung rechtfertigende Entfremdung gegeben sei, wenn seit wenigstens zwei Jahrzehnten kein Kontakt mehr bestanden habe und dass es objektiv auf das Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und dem Pflichtteilsberechtigten während eines längeren Zeitraums (zumindest 20 Jahre) ankommen soll.

In der Lehre bestehen diesbezüglich unterschiedliche Meinungen. Nach einem Teil seien zwanzig Jahre jedenfalls zu lange und sollen bereits zehn Jahre zur Minderung berechtigen. Nach einem anderen Teil sollen bereits wenige Jahre ausreichen oder könne überhaupt nicht auf eine starre Zeitspanne abgestellt werden, da auf die Intensität der Nahebeziehung Bedacht zu nehmen sei. Ein Großteil der Lehre hingegen vertritt die Meinung, dass zwanzig Jahre als Voraussetzung für eine Pflichtteilsminderung erforderlich sei.

Der OGH führte nunmehr aus, dass es für die Verwirklichung eines für die Pflichtteilsminderung erforderlichen „längeren Zeitraumes“ im Regelfall des Verstreichens eines Zeitraumes von mindestens 20 Jahren bedarf, in dem es kein Naheverhältnis gegeben hat, weshalb dem Kläger im vorliegenden Fall der volle Pflichtteilsanspruch zusteht.