Vorrang der Straßenbahn gegenüber PKW?

Verkehrsrecht
November 2019


Einer kürzlich vom Obersten Gerichtshof (OGH) entschiedenen Rechtssache lag nachfolgender Sachverhalt zu Grunde:

Am 1.7.2017 ereignete sich in Wien an der Kreuzung der Eichenstraße mit der Hanauskagasse ein Verkehrsunfall, an dem der Erstbeklagte als Lenker eines PKW und ein im Eigentum der klagenden Partei als Betriebsunternehmerin stehendes Schienenfahrzeug (ein Zug der Badner Bahn) beteiligt waren. Im Unfallbereich bestehen auf der gerade verlaufenden Eichenstraße in beide Fahrtrichtungen jeweils zwei Fahrstreifen, die durch eine Leitlinie voneinander getrennt sind. Im jeweils linken Fahrstreifen verlaufen Straßenbahngleise.

Der Erstbeklagte fuhr in einiger Entfernung vor dem Zug der Badner Bahn im linken Fahrstreifen Richtung stadteinwärts. Er beabsichtigte, nach links in die Hanauskagasse einzubiegen. Der Erstbeklagte betätigte in Annäherung an die Kreuzung den linken Blinker, reduzierte die Geschwindigkeit und ordnete sich auf dem von ihm befahrenen linken Fahrstreifen zum Linksabbiegen ein. Da Gegenverkehr herrschte, war es dem Erstbeklagten nicht möglich, wie beabsichtigt, abzubiegen. Er hielt im Kreuzungsbereich sein Fahrzeug in einem Schrägzug an, um den Gegenverkehr abzuwarten. Da der Erstbeklagte im Rückspiegel den Zug der Badner Bahn herannahen sah, versuchte er, die Gleise zu räumen. Er rollte, soweit es ihm der Gegenverkehr ermöglichte, in den linken Fahrstreifen der Gegenfahrbahn ein und hielt neuerlich an. Wegen des Gegenverkehrs konnte er jedoch dabei die Gleise nicht zur Gänze verlassen.

Da der Zugführer der Badner Bahn seinen Bremsentschluss zu spät fasste, kam es zur Kollision des Zuges im Bereich vorne links mit der rechten hinteren Ecke des Beklagtenfahrzeugs.

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Der OGH bestätigte diese Entscheidung. In seiner Begründung führte der OGH nachfolgendes aus:

Gemäß § 28 Abs 2 Straßenverkehrsordnung (StVO) haben, sofern sich aus den Bestimmungen des § 19 Abs 2 bis 6 StVO über den Vorrang nichts anderes ergibt, beim Herannahen eines Schienenfahrzeuges andere Straßenbenützer die Gleise jedenfalls so rasch wie möglich zu verlassen, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen. § 28 Abs 2 StVO begründe jedoch keine Vorrangregel. Zudem gelte diese Verpflichtung nur mit der Maßgabe, dass ihre Befolgung nach der jeweiligen Verkehrslage zeitgerecht möglich ist. In der Mitte der Fahrbahn liegende Straßenbahnschienen dürfen in Längsrichtung befahren werden.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies zunächst, dass der Erstbeklagte die auf dem zweiten Fahrstreifen von rechts verlaufenden Straßenbahngleise ohne Verstoß gegen § 28 Abs 2 StVO zum Linksabbiegen befahren durfte. Als das Schienenfahrzeug herannahte, hatte der Erstbeklagte seinen Abbiegevorgang bereits begonnen und das Beklagtenfahrzeug aufgrund des Gegenverkehrs angehalten. Nun war er verpflichtet, die Gleise so rasch wie möglich zu verlassen. Das bedeutet nach ständiger Rechtsprechung, dass er in seiner Fahrtrichtung weiter zu fahren hatte, sofern das nach der Verkehrslage möglich war. Im vorliegenden Fall war der Erstbeklagte daher verpflichtet, den bereits begonnenen Einbiegevorgang so rasch wie möglich fortzusetzen. Eine Verpflichtung, seine Linksabbiegeposition aufzugeben, bestand hingegen nicht. Der Erstbeklagte war daher auch nicht verpflichtet, seine Fahrtrichtung zu ändern und geradeaus weiterzufahren, selbst wenn ihm dies verkehrsbedingt möglich gewesen wäre. Den Lenker des Erstbeklagten als Lenker des PKW trifft daher kein Verschulden.