Außergewöhnliche Betriebsgefahr bei Notbremsung einer U-Bahn

Schadenersatzrecht
October 2024

Innerhalb des Schadenersatzrechts können grundsätzlich vier verschiedene Haftungsprinzipien unterschieden werden: die Verschuldenshaftung, Gefährdungshaftung, Eingriffshaftung und die Billigkeitshaftung. Die Gefährdungshaftung verfolgt den Grundgedanken, einen Schadenersatzanspruch des Geschädigten unter Verzicht auf ein Verschulden des Schädigers nur vom erlaubten Betrieb einer gefährlichen Sache abhängig zu machen.

Eine Gefährdungshaftung wird in vielen Sondergesetzen vorgesehen, darunter etwa dem Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz (EKHG). Der sachliche Anwendungsbereich des EKHG erstreckt sich gemäß § 1 EKHG auf Schäden an Körper, Gesundheit oder Sachen, die durch einen Unfall beim Betrieb einer Eisenbahn oder beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges verursacht werden.

In einer erst kürzlich ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) befasste sich das Höchstgericht mit schadenersatzrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Betrieb einer U-Bahn und den mit einer U-Bahn verbundenen Betriebsgefahren nach Maßgabe des EKHG. Dem Erkenntnis des OGH lag dabei folgender Sachverhalt zu Grunde:  

Die Klägerin fuhr mit der U-Bahn der beklagten U-Bahnhalterhin. In Folge der durch das grundlose Betätigen des Zugnotstopps ausgelösten, plötzlich eintretenden „Gefahrenbremsung“ stürzte ein anderer Fahrgast der U-Bahn auf den Unterschenkel der Klägerin, wodurch sich diese verletzte. Die Klägerin begehrte nun aufgrund ihrer Verletzung am Unterschenkel Schadenersatz gemäß §§ 1 ff EKHG von der beklagten U-Bahnhalterin und die Feststellung der Haftung für künftige Schäden. Gegenstand des Revisionsverfahrens vor dem OGH war die Frage, ob die durch die unvorhergesehene Betätigung des U-Bahn-Notstopps bewirkte Gefahrenbremsung als außergewöhnliche Betriebsgefahr einzustufen war, oder ein für die U-Bahnhalterin begünstigendes unabwendbares Ereignis vorlag.

Unstrittig war im Ausgangsfall die Anwendbarkeit des EKHG. Der Begriff „Eisenbahn“ wird im Sinne des Eisenbahngesetzes sehr weit verstanden, sodass jedenfalls auch U-Bahnen darunter subsumiert werden können. Die Verletzung am Bein ist ein vom EKHG erfasster Personenschaden, und die „plötzliche“ Gefahrenbremsung als „Unfall“ zu qualifizieren, der beim Betrieb der U-Bahn eingetreten ist. Ob an dieser Gefahrenbremsung die U-Bahnhalterin als haftpflichtige Person nach § 5 EKHG ein Verschulden trifft oder nicht, ist wegen der Einstufung des EKHG als Gefährdungshaftung grundsätzlich irrelevant. Die Frage, ob diese durch grundlose Betätigung des Zugnotstopps ausgelöste, automatische Gefahrenbremsung eine außergewöhnliche Betriebsgefahr oder ein unabwendbares Ereignis darstellt, ist im Anwendungsbereich des EKHG deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sich die U-Bahnhalterin nur dann von einer Schadenersatzpflicht befreien kann, wenn ihr der Beweis gelingt, dass ein Schaden durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde (§ 9 EKHG). Sollte der Schaden hingegen auf eine außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückgeführt werden, so bleibt die Haftung bestehen. Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Gefährlichkeit, die regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Fahrzeuges verbunden ist, dadurch vergrößert, dass besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon deshalb vorliegen, weil ein Fahrzeug in Betrieb ist. Das heißt, dass der entscheidende Unterschied zur gewöhnlichen Betriebsgefahr darin liegt, dass besondere Gefahrenmomente noch zusätzlich hinzukommen.

In seiner Entscheidung verwies der OGH auf bereits bestehende Judikatur, die einerseits eine außergewöhnliche Betriebsgefahr in dem Fall annahm, in dem ein Fahrgast in einer Straßenbahn, in der er sich an einer Haltestange festhielt, durch eine Schnellbremsung der Straßenbahn von dieser losgerissen wurde und zu Boden stürzte. Andererseits wurde auch eine stärkere Betriebsbremsung einer Straßenbahn als außergewöhnliche Betriebsgefahr eingestuft. Vor diesem Hintergrund erachtete das Höchstgericht die Annahme des Berufungsgerichts, es handle sich bei der durch Betätigung des Zugnotstopps einer U-Bahn ausgelösten Gefahrenbremsung ebenso um eine außergewöhnliche Betriebsgefahr, als nicht verfehlt. Das Argument der beklagten U-Bahnhalterin, das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr müsse schon deshalb ausscheiden, weil solche Bremsungen regelmäßig vorkommen und daher notwendigerweise mit dem Betrieb der U-Bahn verbunden wären, wurde vom OGH nicht geteilt. Das Höchstgericht verwies weiter darauf, dass auch bei außergewöhnlichen Betriebsgefahren Schäden nur dann von einer Ersatzpflicht nach dem EKHG erfasst sind, wenn diese auch kausal durch eine Betriebsgefahr verursacht werden. Auch hierzu hielt das Höchstgericht fest, dass die Verletzung kausal auf die Gefahrenbremsung und die dadurch bewirkte außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist und entkräftigte somit das Argument der Beklagtenseite, es würde an der erforderlichen Kausalität mangeln.

Im Ergebnis stellte somit der OGH unter Verweis und Bekräftigung der bereits vorliegenden höchstgerichtlichen Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen fest, dass es sich bei einer durch grundloses Betätigen des Zugnotstopps ausgelösten Gefahrenbremsung einer U-Bahn um eine außergewöhnliche Betriebsgefahr nach § 9 Abs 2 EKHG handelt. Der Entlastungsbeweis, dass es sich um ein unabwendbares Ereignis handle, konnte somit im Ergebnis durch die beklagte U-Bahnhalterin nicht erbracht werden.