Vereinheitlichung der Rechtsprechung zum Unterhaltsschaden bei „wrongful birth“ / „wrongful conception“
Diese Unterscheidung wurde in der Literatur stark kritisiert und sah sich der OGH nunmehr veranlasst seine Rechtsprechung zu vereinheitlichen. Folgender Sachverhalt lag der richtungsweisenden Entscheidung zugrunde:
Die Tochter der Kläger kam im April 2018 mit einer Fehlbildung zur Welt die zu einer Beeinträchtigung der Bewegung, der Motorik und der Teilhabe führte. Der Beklagte, ein Facharzt für Gynäkologie und Geburtenhilfe, hätte die schwere körperliche Behinderung bei gehöriger Aufmerksamkeit bereits beim Erst-Trimester-Ultraschallscreening erkennen können. Die Kläger hätten sich – wenn sie von der Behinderung gewusst hätten – für eine Abtreibung entschieden, weil sie sich die Versorgung eines behinderten Kindes weder emotional noch kräftemäßig zugetraut hätten. Sie begehrten vom Beklagten Schadenersatz und die Feststellung seiner Haftung für alle künftigen Schäden aufgrund seines Untersuchungsfehlers.
Der OGH betonte zunächst, dass entgegen der bisherigen Ansicht, die Geburt eines gesunden, wenn auch nicht gewollten Kindes einen Schaden im Rechtssinn darstellen kann. Nach § 1293 Satz 1 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) ist ein Schaden jeder Nachteil, welcher jemandem an Vermögen, Rechten oder seiner Person zugefügt worden ist. Schaden ist die Verminderung von Aktiv- oder Vermehrung von Passivposten in einem rechnerischen Vergleich der durch das schädigende Ereignis eingetretenen Vermögenslage mit jener, die sich ohne das Ereignis ergeben hätte. In der Rechtsprechung wird jede zusätzliche Belastung als Schaden begriffen, sodass auch der Unterhaltsaufwand für ein nicht gewolltes Kind einen Schaden nach § 1293 ABGB darstellt.
Im Fall eines nicht gewollten Kindes stellt nicht dessen Geburt für sich allein einen Schaden im Rechtssinn dar, wohl aber der aus seiner Geburt resultierende finanzielle Aufwand. Dies gelte gleichermaßen bei jedem nicht erwünschten Kind, also unabhängig davon, ob es gesund oder mit einer Behinderung geboren wird. Eine Differenzierung nach diesem Gesichtspunkt verbiete sich schon deshalb, weil dafür aus dem Gesetz keine sachliche Grundlage ableitbar ist. Entscheidend ist, dass in beiden Konstellationen bei fehlerfreiem Vorgehen der Ärzte und bei dem von den Eltern (der Mutter) im Fall von „wrongful birth“ gewünschten Schwangerschaftsabbruch die Geburt unterblieben wäre. Den im Entstehen der Unterhaltspflicht liegenden Schaden erleiden die Eltern also sowohl bei misslungener Vasektomie oder Eileiterunterbindung als auch bei einem unterbliebenen Schwangerschaftsabbruch infolge mangelnder oder falscher Aufklärung über ein Schwangerschaftsrisiko.
Es sei zudem objektiv voraussehbar, dass im Fall drohender schwerwiegender Behinderungen des Kindes die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann; deshalb sind auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst. Erhält in einer solchen Konstellation die Schwangere die maßgeblichen Informationen aufgrund eines ärztlichen Fehlers nicht und kann sie sich deshalb nicht gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden, verwirklicht sich mit der Geburt des Kindes ein Fall, den eine Schwangere mit dem Abschluss des Behandlungsvertrags – für den Arzt auch erkennbar – verhindern will. Ein Schadenersatzanspruch setzt voraus, dass die Betroffene(n) bei gehöriger Aufklärung einen Schwangerschaftsabbruch hätte vornehmen lassen können. Im vorliegenden Sachverhalt wäre dies der Fall gewesen.
Zur Höhe des Unterhaltsanspruchs führte der OGH aus, dass im gegenständlichen Fall entscheidend sei, dass der Beklagte durch sein fachliches Fehlverhalten den Klägern die Möglichkeit genommen hat, sich für einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Da die Kläger diese Möglichkeit tatsächlich wahrgenommen hätten, wäre es bei pflichtgemäßer Diagnose und Beratung durch den Beklagten nicht zur Geburt des Kindes gekommen. In diesem Fall wären den Klägern keinerlei Unterhaltsaufwand entstanden. In einer solchen Konstellation könne schadenersatzrechtlich nur die Situation mit und ohne Kind verglichen werden, sodass eine Begrenzung des Ersatzanspruchs mit dem behinderungsbedingten Unterhaltsaufwand ausscheidet. Der OGH hielt ausdrücklich fest, dass man zum Ersatz bloß des behinderungsbedingten Mehraufwands nur durch den Vergleich des behinderten Kindes mit einem – auf einer bloßen Fiktion beruhenden – gesunden Kind kommen könne, und gerade diese Betrachtungsweise nicht nur schadenersatzrechtlich, sondern ein die Behinderung in den Vordergrund stellender und insoweit diskriminierender Denkansatz wäre.
Aufgrunddessen sei ein Zuspruch des gesamten Unterhaltsaufwands also nicht bloß konsequent, sondern sogar zwingend: Durch das ärztliche Fehlverhalten wird nicht die Geburt eines gesunden Kindes verhindert, vielmehr beschränken sich die elterlichen Alternativen im Fall einer diagnostizierten und aufgeklärten fetalen Behinderung darauf, das behinderte Kind entweder auf die Welt zu bringen oder die Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Durch das rechtswidrige und schuldhafte Verhalten des Arztes war es den Eltern allerdings nicht möglich, ihre Entscheidung im Sinn der zweiten Alternative zu treffen. Wäre die Schwangerschaft tatsächlich abgebrochen worden, wäre kein Kind – weder ein gesundes noch ein behindertes – geboren worden und den Eltern folglich keinerlei Unterhaltsaufwand, insbesondere auch nicht der Aufwand für den „Basisunterhalt“, entstanden. Somit stellt der gesamte, die Eltern nunmehr treffende Unterhaltsaufwand den vom Behandler verursachten Schaden dar.