Analoge Anwendung des § 783 ABGB bei abstrakt Pflichtteilsberechtigten

Erbrecht
September 2023

Liegt eine planwidrige Gesetzeslücke vor, kann diese durch Analogie geschlossen werden. Eine „planwidrige Unvollständigkeit“ wird dann angenommen, wenn die Regelung eines Sachbereichs keine Bestimmung für eine Frage enthält, die im Zusammenhang mit dieser Regelung an sich geregelt werden müsste, oder wenn Wertungen und Zweck der konkreten gesetzlichen Regelung die Annahme rechtfertigen, der Gesetzgeber habe einen nach denselben Maßstäben regelungsbedürftigen Sachverhalt übersehen. Von einer solch planwidrigen Unvollständigkeit ist der Oberste Gerichthof (OGH) in einer kürzlich entschiedenen Rechtssache ausgegangen, der folgender Sachverhalt zu Grunde lag:

Der 2020 verstorbene Erblasser schenkte 2015 dem Beklagten, seinem Enkelsohn, eine Liegenschaft. Seiner pflichtteilsberechtigten Tochter, der Klägerin, hatte er 1994 schenkungsweise ein Wohnrecht an einem Einfamilienhaus eingeräumt. Der Nachlass war überschuldet und wurde der Witwe an Zahlungs statt überlassen. Die Klägerin nahm den Beklagten als Beschenkten gemäß § 789 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) in Anspruch und begehrte die Zahlung von € 60.000,-, was einem Sechstel des Werts der Liegenschaft entsprach und somit ihrem Pflichtteil. Der Beklagte brachte wiederum vor, dass der Wert des Wohnrechts, welches der Klägerin vom Erblasser 1994 eingeräumt wurde, auf diesen Wert jedenfalls anzurechnen sei und einen etwaigen Pflichtteilsanspruch der Klägerin übersteige.

Die Klägerin vertrat die Ansicht, dass sich der Beklagte als nur abstrakt Pflichtteilsberechtigter nicht auf § 783 ABGB stützen könne, weil eine Hinzu- und Anrechnung einer Schenkung nach dem Wortlaut der Bestimmung nur konkret Pflichtteilsberechtigten, dem Erben und dem abstrakt pflichtteilsberechtigten Geschenknehmer, der deswegen nicht konkret pflichtteilsberechtigt ist, weil er auf seinen Pflichtteil verzichtet oder die Erbschaft ausgeschlagen hat, und dem Vermächtnisnehmer, der zur Pflichtteilserfüllung beizutragen hat oder einen verhältnismäßigen Abzug erleidet, gestattet werde.

Der OGH sah sich mit der Frage konfrontiert, ob der Beklagte aufgrund analoger Anwendung des § 783 ABGB in der vorliegenden Konstellation dazu legitimiert sei, ein Hinzu- und Anrechnungsbegehren zu stellen. Für eine solche analoge Anwendung bedürfe es – wie oben bereits angeführt – des Vorliegens einer planwidrigen Lücke. Mit Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien und die einhellige Literatur kam der OGH zum Schluss, dass in diesem Fall von einer planwidrigen Lücke auszugehen sei, weshalb der OGH nachfolgenden Rechtssatz formulierte:

Nimmt ein konkret Pflichtteilsberechtigter einen vom Wortlaut des § 783 Abs 1 Satz 2 ABGB nicht erfassten Geschenknehmer wegen nicht ausreichender Verlassenschaft nach §§ 789 ff ABGB in Anspruch, dann ist der auf diese Weise belangte Beschenkte in analoger Anwendung des § 783 Absatz 1 Satz 2 ABGB ebenfalls zur Erhebung eines Hinzu- und Anrechnungsbegehrens legitimiert, kann also gegen den Pflichtteilskläger einwenden, dass sich dieser selbst eine andere Schenkung anrechnen lassen muss.