Kieferbruch durch Faustschlag – Notwehr?

Schadenersatzrecht
November 2024

Mit „Notwehr“ wird meist ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt assoziiert, im Rahmen dessen trotz eines Verstoßes gegen ein Strafgesetz die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens entfällt, zumal dieses durch „Notwehr“ im Sinne des § 3 Strafgesetzbuch (StGB) als Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt werden kann. Notwehr entfaltet allerdings nicht nur strafrechtliche Relevanz, sondern spielt auch im Schadenersatzrecht eine Rolle.

Damit einem Geschädigten nach Maßgabe der in §§ 1293 ff Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) normierten Verschuldenshaftung ein Anspruch auf Ersatz des erlittenen Schadens gebührt, verlangt das Gesetz neben weiteren Voraussetzungen die „Rechtswidrigkeit“ des Verhaltens des Schädigers. „Notwehr“ schließt dabei nicht nur die Strafrechtswidrigkeit eines Verhaltens aus, sondern auch eine schadenersatzrechtlich relevante Rechtswidrigkeit.

Ausgangspunkt für die Rechtfertigung eines an sich rechtswidrigen Verhaltens durch Notwehr ist das Vorliegen einer Notwehrsituation. Eine solche ist gegeben, sofern ein rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut unmittelbar droht oder gegenwärtig ist. Notwehrfähige Rechtsgüter sind in Anlehnung an § 3 StGB unter anderem das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Unversehrtheit eines Menschen. Sollte eine solche Zwangslage des Einzelnen bejaht werden können, so kann dieser innerhalb der Grenzen der notwendigen Verteidigung durch Selbsthilfe den Angriff abwehren. Daraus folgt, dass auch in einer Notwehrsituation nicht jedes Verhalten des Bedrohten vom Notwehrrecht gedeckt ist, sondern nur die zur Abwehr notwendigen und angemessenen Handlungen. Darüberhinausgehende Abwehrhandlungen bleiben rechtswidrig. 

In einer erst kürzlich ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) im Bereich des Schadenersatzrechts musste sich dieser mit der Frage beschäftigen, ob eine Handlung vom Notwehrrecht gedeckt war oder dieses überschritt. Dem Höchstgericht lag dabei folgender Sachverhalt zu Grunde:

Im Jänner 2022 kam es zwischen dem alkoholisierten Kläger und seinem bekannten Beklagten zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Der Kläger machte sich über den Beklagten und dessen Freunde lustig, woraufhin sich eine verbale Auseinandersetzung begleitet von Stößen und einer Rangelei, entwickelte. Im Zuge der Auseinandersetzung forderte der Kläger den Beklagten auf, ihm ins Gesicht zu schlagen und versuchte der Kläger, dem Beklagten eine Ohrfeige zu geben. Daraufhin schlug der Beklagte dem Kläger mit der Faust, allerdings zunächst folgenlos, ins Gesicht und entfernte sich vom Kläger. Nachdem der Kläger den Beklagten verfolgte, drehte sich dieser um und schlug dem Kläger erneut mit der Faust ins Gesicht, wodurch dieser einen Kieferbruch erlitt. Ausgehend davon begehrte der Kläger auf dem Titel des Schadenersatzes „Schmerzengeld“ vom Beklagten, der sich allerdings auf „Notwehr“ berief. Strittig war nun im Ausgangsfall nicht das Vorliegen einer Notwehrsituation, sondern die Frage, ob ein zum Kieferbruch führender Faustschlag ins Gesicht des Klägers als notwendige und angemessene Abwehrhandlung vom Notwehrrecht des Beklagten gedeckt war.

In Anlehnung an die ständige Rechtsprechung des OGH ist eine Verteidigungshandlung dann notwendig, wenn sie unter den verfügbaren Mitteln das schonendste darstellt, um den gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff sofort und endgültig abzuwenden. Diese Notwendigkeit muss immer objektiv und ex ante, also im Zeitpunkt vor der Vornahme der Verteidigungshandlung und nicht erst im Nachhinein beurteilt werden. Gerechtfertigt ist ein Verhalten, wenn es ex ante den Angriff durch den Eingriff in die Rechtsgüter des Angreifers verlässlich abwehrt und jene Abwehr gewählt wird, im Rahmen derer die Interessen des Angreifers möglichst gering beeinträchtigt werden. Vor allem kann vom Angegriffen nicht verlangt werden, dass er Verteidigungsmittel wählt, bei denen das Risiko besteht, ihn nicht gegenüber dem Angreifer unbedingt überlegen zu machen. Ausgehend von diesen allgemeinen theoretischen Erläuterungen stellte das Höchstgericht fest, dass der Faustschlag des Beklagten keine Überschreitung des ihm zustehenden Abwehrrechts darstellt. Begründend führte das Höchstgericht folgendes aus: einerseits ist zu beachten, dass der Beklagte ohnehin versucht hat, dem Angriff zu entgehen, obwohl bei Bestehen einer Notwehrsituation keine Pflicht besteht, einem Angriff auszuweichen. Andererseits ist in Berücksichtigung zu ziehen, dass schon der erste Faustschlag den Kläger nicht von einem weiteren Angriff abhielt, sodass der zweite Faustschlag, selbst bei höherer Intensität, aus der Sicht des Klägers die einzig verlässliche Abwehrhandlung darstellte, um die Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit abzuwenden. Vor dem Hintergrund, dass der erste Faustschlag keine Beendigung des Angriffs durch den Kläger zur Folge hatte, konnte dem Beklagten nicht zugemutet werden, dem Angriff bloß durch geringfügigere Handlungen, wie etwa Wegstoßen, zu begegnen. Auch der Umstand, dass der Faustschlag zu einem Kieferbruch beim Kläger führte, muss zur Beurteilung der Angemessenheit und Notwendigkeit der Abwehrhandlung unberücksichtigt bleiben, da dies ex ante festgestellt wird, und eben nicht ausgehend von einem ex post eingetretenen Verletzungserfolg.

Im Ergebnis kann somit festgehalten werden, dass selbst ein zu einem Bruch führender Faustschlag ins Gesicht des Angreifers in einer Notwehrsituation vom Notwehrrecht des Angegriffenen umfasst sein kann. Der Umstand, dass die Verteidigungshandlung zu einer Verletzung beim Angreifer führt, muss bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung aufgrund der ex ante Betrachtung außer Acht bleiben.