Kinder – Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz
Einer kürzlich vom Obersten Gerichtshof (OGH) entschiedenen Rechtssache lag nachfolgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger befuhr mit seinem Fahrrad eine wenig befahrene Brücke, auf welcher die Fahrbahn 5,4 m breit und kein Gehsteig vorhanden ist. In Annäherungsrichtung des Klägers verläuft die Brücke geradlinig und ohne Sichtbehinderung. Unterhalb dieser Brücke befinden sich Stromschnellen, die von Surfern benutzt werden. Auf der Brücke befand sich eine Mutter mit ihrem viereinhalb Jahre alten und mit ihrem zehn Jahre alten Sohn sowie der siebenjährigen Cousine. Die Kinder und die Mutter standen in Fahrtrichtung des Klägers betrachtet am linken Brückengeländer, sodass die Kinder den Surfern unterhalb der Brücke zusehen konnten, wobei die Mutter den Vierjährigen nicht festhielt. Als einer der Surfer stürzte und vom Wasser unter der Brücke hindurch getrieben wurde, lief der vierjährige Sohn, um dem Surfer nach der Brücke weiter zuzusehen, unmittelbar vor dem Kläger auf die rechte Seite der Straße, woraufhin es ungefähr in der Mitte der Brücke zur Kollision kam. Die Geschwindigkeit, mit welcher sich der Kläger auf seinem Fahrrad näherte, konnte nicht mehr festgestellt werden, jedoch betrug die Geschwindigkeit des Klägers unmittelbar vor der Kollision ca. 15-20 km/h.
Der Kläger begehrte vom vierjährigen Kind sowie von der aufsichtspflichtigen Mutter Schadenersatz, wobei der Ersatzanspruch gegen das Kind vom Erstgericht abgewiesen. Hinsichtlich des Schadenersatzbegehrens gegenüber der Mutter gelangte das Erstgericht zu einer Verschuldensteilung von 2:1 zu Lasten der Mutter. Vom Berufungsgericht wurde diese Entscheidung bestätigt.
Der OGH führte in seiner Entscheidungsbegründung aus, dass sich der Schutz von Kindern im Straßenverkehr auf die in § 3 Straßenverkehrsordnung (StVO) verankerte Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz gründet, welche besagt, dass bei Kindern nicht auf ein verkehrsgerechtes Verhalten vertraut werden darf. Die Nichtanwendung des Vertrauensgrundsatzes bei Kindern kommt dann in Betracht, wenn nach den Umständen mit der Benützung der Fahrbahn durch Kinder zu rechnen ist. Auch wenn sich Erwachsene in der Nähe der Kinder befinden, findet der Vertrauensgrundsatz auf Kinder keine Anwendung.
Aus diesem Grundsatz leitet der OGH in Verbindung mit § 20 Abs 1 StVO die Verpflichtung von Fahrzeuglenkern ab, dass diese bei Wahrnehmung von Kindern am Straßenrand ihre Geschwindigkeit so weit zu vermindern haben, sodass bei einem allfälligen Versuch der Kinder, die Straße zu überqueren, ein Unfall verhindert werden kann. Bei Annäherung an – auf dem Straßenrand gehende – Kinder muss die Geschwindigkeit nahe an Schritttempo herabgesetzt und in ständiger Bremsbereitschaft gefahren werden. Der OGH bestätigte damit das Mitverschulden des Klägers, welcher seine Geschwindigkeit zumindest nahe Schrittgeschwindigkeit hätte vermindern müssen. Umgekehrt war die Beaufsichtigung der Mutter nicht ausreichend, vielmehr hätte sie das vierjährige Kind in der Situation festhalten müssen.