Mietzinsminderung trotz Möglichkeit eines Liefer- und Abholservices?

Mietrecht
April 2022


Gemäß § 1104 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) ist kein Mietzins zu entrichten, wenn die in Bestand genommene Sache wegen „außerordentlicher Zufälle“, namentlich (u.a.) wegen „Feuer, Krieg oder Seuche, großer Überschwemmungen (oder) Wetterschläge“, gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann. Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat zwischenzeitlich bereits mehrfach ausgesprochen, dass auch die COVID-19-Pandemie als „Seuche“ im Sinne des § 1104 ABGB zu werten ist und aufgrund dieser Pandemie durch Gesetz oder Verordnung angeordnete Betretungsverbote für Geschäftsräume in Bestandobjekten zu deren Unbenutzbarkeit führen.

Einer kürzlich vom OGH entschiedenen Rechtssache lag nachfolgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin ist Bestandgeberin und die Beklagte Bestandnehmerin einer Geschäftsräumlichkeit in Wien. Die Beklagte betreibt in dem Bestandobjekt entsprechend dem im Mietvertrag vereinbarten Verwendungszweck eine Gastwirtschaft. Eine Änderung des Verwendungszwecks ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Zustimmung des Vermieters gestattet.

Im Rahmen des „Zweiten Lockdowns“ war ab 03.11.2020 das Betreten und Befahren von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen des Gastgewerbes untersagt. Die Abholung (Take-away) und Lieferung von Speisen und Getränken war grundsätzlich zulässig.

Die Beklagte bezahlte von November 2020 bis Jänner 2021 keinen Mietzins für das Bestandobjekt, weshalb die Klägerin den ausständigen Mietzins von insgesamt € 13.342,11 bei Gericht einklagte. Anspruchsbegründend brachte die Klägerin vor, dass eine (gänzliche) Unbrauchbarkeit des Bestandobjekts trotz des behördlichen Betretungsverbotes für sämtliche gastronomische Betriebsstätten nicht gegeben gewesen sei, weil das Abholen und auch das Ausliefern von Speisen und Getränken ab dem 03.11.2020 erlaubt war. Die Beklagte bestritt dies und wandte ein, dass der Betrieb eines Take‑away bzw. ein Lieferservice nicht Geschäftsgegenstand einer Gastwirtschaft bzw. eines Restaurants sei.

Sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht wiesen das Klagebegehren ab. Der OGH gab der gegen das Berufungsurteil erhobenen Revision grundsätzlich Folge, hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. In seiner Urteilsbegründung führte der OGH aus, dass die Frage, ob (teilweise) Unbenützbarkeit des Bestandgegenstands vorliege, nach dem Vertragszweck zu beurteilen und für die Beurteilung daher in erster Linie die (ausdrückliche) Parteienvereinbarung bzw. der dem Vertrag zugrunde gelegte Geschäftszweck maßgeblich sei. Ist der bedungene Gebrauch des Bestandobjektes durch Kundenverkehr gekennzeichnet, so führe ein Betretungsverbot aus Anlass der COVID‑19‑Pandemie zur gänzlichen Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts im Sinn des § 1104 ABGB. Ist die vertragsgemäße charakteristische Nutzung hingegen nur eingeschränkt, so komme es gemäß § 1105 ABGB zu einer Mietzinsminderung im Umfang der Gebrauchsbeeinträchtigung nach der relativen Berechnungsmethode. Auch wenn im Anlassfall davon auszugehen sei, dass die Beklagte weder vor dem 03.11.2020 noch danach einen Abhol- bzw. Zustellservice angeboten hat, wäre sie dazu – auch ohne Zustimmung der Klägerin – berechtigt gewesen, weil der Geschäftszweck „Gastwirtschaft“ auch das Anbieten eines Take-away und die Lieferung von Speisen und Getränken umfasse.

Der OGH gelangte sodann zu dem Ergebnis, dass die Unbrauchbarkeit bzw. Unbenützbarkeit des Bestandobjekts – ausgehend vom vereinbarten Geschäftszweck – anhand eines objektiven Maßstabes zu beurteilen sei. Daraus folge, dass die hier objektiv bestehende Möglichkeit der Beklagten, einen Liefer- oder Abholservice anzubieten, eine zumindest teilweise Brauchbarkeit des Geschäftslokals begründet. Dennoch stehe der Beklagten als Mieterin der Einwand offen, dass die Etablierung eines bislang nicht betriebenen Liefer- oder Abholservices nicht (sofort) zumutbar gewesen wäre. Unzumutbarkeit sei nach Ansicht des OGH jedenfalls dann anzunehmen, wenn – etwa aufgrund des fehlenden Kundenkreises – ein nachhaltiges Verlustgeschäft zu erwarten gewesen wäre. Da das Erstgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, wurde dem Erstgericht die Verfahrensergänzung aufgetragen.