Zur Lesefähigkeit eines Erblassers
Am 13. Juni 2019 setzte er den Erstantragsteller zum Alleinerben ein, setzte mehreren Personen ein Vermächtnis aus und widerrief frühere letztwillige Verfügungen. Am 27. August 2019 setzte er den Erstantragsteller erneut zum Alleinerben ein und widerrief alle früheren letztwilligen Verfügungen. Der Erblasser litt 2019 an einer Makuladegeneration an beiden Augen, was zu einer Sehschärfe von 10 % führte. Die Schriftgröße der 2019 erstellten Testamente betrug 3 mm, was Zeitungsdruck entspricht. Um Zeitungsdruck lesen zu können, wäre eine Sehschärfe von mindestens 40 – 50 % notwendig. Zum Termin beim Notar im August 2019 brachte der Erblasser eine „runde Lupe mit Stiel“ mit und habe der Erblasser das Testament vor Unterzeichnung auch mit seiner Lupe gelesen. Die Zweit- bis Achtantragsteller vertraten die Ansicht, dass die eingeschränkte Sehfähigkeit des Erblassers und die Nichteinhaltung der besonderen Testamentsform nach § 580 Abs. 2 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) die 2019 unterfertigten Testamente ungültig mache.
§ 580 Abs 2 ABGB sieht folgendes vor: „Wer nicht lesen kann, muss sich die fremdhändige Verfügung von einem Zeugen in Gegenwart der beiden anderen Zeugen, die den Inhalt eingesehen haben, vorlesen lassen und bekräftigen, dass dieser seinem Willen entspricht.“
Der OGH hielt zunächst fest, dass die Bestimmung des § 580 Abs 2 ABGB mit geringen sprachlichen Änderungen § 581 ABGB alte Fassung (aF) entspricht und zur Klärung der gegenständlichen Rechtsfrage auf seine alte Rechtsprechung zu § 581 ABGB aF zurückgegriffen werden könne. Nach Sichtung seiner bisherigen Rechtsprechung und relevanter Fachliteratur hielt der OGH folgendes fest:
Die Wortfolge „nicht lesen kann“ umfasst nach der Rechtsprechung auch Fälle „physischer Unfähigkeit“. Solange der letztwillig Verfügende – wenn auch unter Zuhilfenahme einfacher Hilfsmittel – zu lesen im Stande ist, steht ihm die Testamentsform des § 580 Abs. 2 ABGB nicht offen. Es soll ihm nämlich nicht aus reiner Bequemlichkeit ermöglicht werden, eine besondere Form zu wählen. Die besondere Form des § 580 Abs 2 ABGB, mit der der Erblasser die inhaltliche Kontrolle der letztwilligen Verfügung an die ausnahmsweise als Inhaltszeugen fungierenden Zeugen abgibt, soll also nicht ohne Not Anwendung finden.
Zur Annahme von Leseunfähigkeit in Form „physischer Unfähigkeit“ nach § 580 Abs 2 ABGB ist eine gewisse Schwere der Sehschwäche erforderlich, die durch Zuhilfenahme einfacher Hilfsmittel (etwa einer Brille oder von Kontaktlinsen) nicht mehr ausgeglichen werden kann. Billigerweise nicht zuzumuten ist dem letztwillig Verfügenden in aller Regel die Verwendung ganz besonderer, in seinem Alltag nicht gebräuchlicher technischer Hilfsmittel (etwa die ganz massive Vergrößerung der Schriftgröße auf einem Bildschirmgerät). Verwendet der letztwillig Verfügende jedoch im Einzelfall solche (besonderen) Hilfsmittel, die ihn in die Lage versetzen, die konkrete letztwillige Verfügung tatsächlich lesen zu können, steht ihm die besondere Form des § 580 Abs 2 ABGB nicht zur Verfügung.
Nachdem der Erblasser im gegenständlichen Fall an schwerer Makuladegeneration an beiden Augen litt, konnte er die letztwilligen Verfügungen von 2019 in gängiger Schriftgröße weder unter Zuhilfenahme einer Brille noch einer Lupe lesen. Der Erblasser konnte also im Sinne des § 580 Abs 2 ABGB nicht lesen und wären daher die dort normierten Formvorschriften einzuhalten gewesen. Die Nichteinhaltung der Formvorschriften nach § 580 Abs 2 ABGB führten somit zur Ungültigkeit der Testamente aus dem Jahr 2019.